Mathieu Trautmann

Six mois, dix ans et un jour

 

Inhaltsangabe:

Die Theorie, dass eine Beziehung sich auf Hingabe und Treue gründet, stammt aus einer Zeit, als die Lebenserwartung nicht über vierzig Jahre hinausging.
Ich heiße David, ich bin vierzig Jahre alt und meine Lebenserwartung beträgt achtzig Jahre.

Seit 1990 lebe ich in der Luisenstraße, im ehemaligen Ost-Berlin. Als ich her zog, war das Viertel heruntergekommen und die Mieten spottbillig. Die Bagger hatten riesige, leere Flächen freigelegt und ganz in der Nähe, am Spreeufer, erstreckte sich noch der ehemalige Todesstreifen entlang der Mauer. Der Osten, das war vor allem Grau, niemand wollte dorthin. Ich fühlte mich hier zuhause. Meine neuen Nachbarn mussten ohnmächtig mitansehen, wie der Kapitalismus Einzug hielt, und beäugten kritisch jenen großen Kerl, der da ihre Welt betrat, so als gehöre er dazu. Kurz nach meiner Ankunft lud ich sie alle zu einem kleinen Umtrunk bei mir ein. Wer meiner Einladung gefolgt war, den bestärkte meine französische Herkunft in der Annahme, dass ich bestenfalls ein zynischer Dummkopf, schlimmstenfalls ein ahnungsloser Idiot sei; schließlich hatte ich frei entschieden, mich in Berlin und nicht in Paris oder anderswo niederzulassen. Von da an nannten sie mich „den Franzosen“ – zunächst aus Misstrauen, dann aus Ironie und zum Schluss, so schien mir, mit einer gewissen Zuneigung.

Zwanzig Jahre später sind die meisten ausgezogen, vertrieben von denjenigen, die – wie ich – mit einem breiten Lächeln letztendlich ihr Vertrauen gewonnen haben. Die Häuser in der Straße sind saniert und in frischen, fröhlichen Farben gestrichen. Die Wohnungen sind normgerecht umgebaut, zu Marktpreisen neu vermietet worden und heute erinnert nichts mehr an die alte Stimmung des Viertels. Die Mauer ist verschwunden. Ihren früheren Verlauf kennzeichnen zwei Reihen Pflastersteine. Die alten Geschäfte sind Kunstgalerien gewichen und die Trabis den Mercedes-Limousinen. Die Fabriken wurden scheibchenweise verkauft, anschließend in Lofts umgewandelt. Von meinem Wohnzimmer aus sehe ich ein Hotel, dessen Zimmer Künstler aus aller Welt gestaltet haben. Touristen treffen ein, reisen wieder ab. Ich beobachte sie von meinem Fenster aus. Sie kommen und gehen, ich gebe ihnen Namen in Form von Initialen: L, P und ihr Sohn D; G,U und T; A und seine Frau A.
Ich heiße David, ich bin vierzig Jahre alt und ich habe eine Mauer errichtet, zwischen mir und dem Rest der Welt. Mein Vater starb mit sechsundvierzig. Seine Lebenserwartung lag bei einundsiebzig Jahren. Ich lebe schon immer in Berlin. Mein Großvater, ein Händler für Künstlerbedarf, machte in Paris ein beträchtliches Vermögen, indem er mit armen Künstlern Farbe gegen signierte Gemälde eintauschte. Eine Investition, die sich auszahlte, als ein paar Jahre später einige der Bilder in renommierten Pariser Galerien ausgestellt wurden. Nach nur zehn Jahren hatte mein Vater das ganze Geld verschleudert und machte sich Mitte der Sechzigerjahre auf nach Berlin. Meine Mutter, Tochter eines französischen Diplomaten, folgte ihren Eltern nicht, als diese Deutschland in Richtung Finnland verließen, wohin ihr Vater versetzt worden war.

Meine Eltern lernten sich also 1966 in einer geteilten Stadt kennen.

Ich bin 1968 in Berlin geboren. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen, mit einer Mauer und meiner Mutter. Später, als die Mauer fiel, habe auch ich geglaubt, dass sich alles ändern würde.

Resümee:
© Éditions Denoël

Informationen zum Buch:

Übersetzt von: Annika Klapper
Autor: Mathieu Trautmann
Ausgangssprache: Französisch
Genre: Belletristik
Verlag: Éditions Denoël
Erscheinungsdatum: Januar 2012
Seiten: 176